Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, 19. November 2023

Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!

Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben. (Matthäus 25,31-46)

All lives matter; jedes menschliche Leben zählt; alle Leben sind wichtig.

Es ist diese Botschaft, die von der gewaltigen Bühne des Weltgerichts heute zu uns gesprochen wird; von einer Bühne, die mit ihren Requisiten und Bildern von Himmel und Hölle, vom Teufel und Engeln, mit ihrer Massenszene aller je gelebten Menschen – das kann voll werden – und mit den machtvollsten Protagonisten, die Menschen glauben können, Gott selbst und seinem Sohn: von einer Bühne also, die unsere religiöse Vorstellungskraft beansprucht und herausfordert wie keine andere, von dieser Bühne wird heute zu uns gesprochen, dass alles Leben wichtig ist, jedes menschliche Leben zählt: All lives matter.

Und zwar sind unserer aller menschlichen Leben Gott so wichtig, dass mit unserem Lebensende nicht einfach die Akten geschlossen werden, so unabgeschlossen und unabgegolten unsere Aktionen gewesen sein mögen, sondern dass sie von Gott wiederaufgenommen werden, dass er sie sich ein letztes und letztgültiges Mal noch einmal vorlegt. Nichts bleibt vergessen, nichts fällt unter den Tisch. Damit verwirklicht Gott eine Gerechtigkeit, die vor unseren Gerichten – und sei es am Ende eines langen Instanzenweges – unmöglich bleibt. Vollständige und umfassende Gerechtigkeit für alle und jeden kann es nur bei Gott geben: All lives matter, alle Leben zählen.

Kein gnädiges – und schon gar kein ungnädiges, also etwa gedankenloses, erschöpftes, unwilliges – Vergessen steht am Ende aller Zeiten und Tage, sondern vollständige, umfassende und gerechte Erinnerung als dem Geheimnis der Erlösung. Kein unterschiedsloses Zudecken mit Gnade und Begraben von Schuld steht am Ende, sondern die wahrhafte Suche, lückenlose Aufklärung, genaue Benennung: die Wahrheit als Voraussetzung von Gerechtigkeit. Kein Gericht und kein gesellschaftlicher Prozess der Aufarbeitung und Widergutmachung nach Gewaltherrschaft und Krieg kann das leisten, auch wenn sie in ihren besten Momenten diesem Ideal folgen oder doch jederzeit mit aller Kraft folgen sollten – ohne es zu erreichen. Dennoch – trotz und wegen unseres Unvermögens zu Wahrheit und Gerechtigkeit – hebt Gott unser Vergessen in seiner Erinnerung auf. Das ist das Weltgericht.

Das ist das Weltgericht, von dessen zweifachem Ausgang nicht erzählt wird, um Angst zu verbreiten, sondern um Angst zu nehmen; oder anders gesagt: von dem erzählt wird, um den Angstmachern Angst zu machen und den Ängstlichen sie zu nehmen, und damit beiden erst gerecht zu werden. Ein gerechtes Urteil kann ja nicht darin bestehen allen dasselbe zukommen zu lassen; Übeltätern und Wohltätern, Tätern und Opfern allen dasselbe. Gerechtigkeit muss Unterschiede machen. Ein gerechtes Urteil vor Gericht kann ebenso wenig wie ein um Gerechtigkeit bemühter Kommentar angesichts von Konflikten und Kriegen einfach neutral von Leid auf allen Seiten sprechen. Auch Täter können leiden und Opfer können Leid zufügen, ohne damit ein Schuldgleichgewicht herbeizuführen. Das Saldieren von Leid verdirbt die historische Buchführung.

Deshalb kann das wahre Wort – all lives matter, alle Leben zählen – zur konkreten Lüge werden, wenn es nämlich das konkrete Leid der Opfer und die konkrete Schuld der Täter überdecken soll. Black lives matter – behauptet ja nicht, dass nicht alle Menschenleben wichtig wären, sondern im Gegenteil: Weil alle Leben zählen, zählen eben auch schwarze Leben, was angesichts von schwarzem Leid und weißer Schuld aber ausdrücklich benannt werden muss. Jewish lives matter – behauptet ja nicht, dass nicht auch christliche oder muslimische, nicht auch deutsche oder palästinensische Leben wichtig wären, sondern im Gegenteil: Weil alle Leben zählen, zählen eben auch jüdische Leben, was angesichts von historischem und aktuellem Leid von Juden ausdrücklich und laut gesagt werden muss. In der konkreten Notlage kann ich nur so der allgemeinen Wahrheit – all lives matter – gerecht werden; anders wird sie angesichts eines Terrorangriffs einer Gruppe auf ein Land zur zynischen Lüge. Natürlich zählen die Menschen in Oberbayern und auf den Fidschi-Inseln – aber angesichts eines Gewaltaktes im jüdischen Israel muss das nicht extra gesagt werden. Das andere schon: Jüdische Leben zählen, jetzt!

Gerechtigkeit lebt von Genauigkeit. Gerechtigkeit erweist sich in Notlagen und gegenüber Notleidenden. Gerecht ist nicht zuerst der, der den allgemeinen Weltfrieden predigt, sondern der, der genau diesen Krieg bekämpft und genau jenen Frieden bereitet. Gerecht ist nicht zuerst der, der allen Essen und allen zu trinken gibt, sondern der, der den Hungrigen Essen und den Durstigen zu trinken gibt. Unser Gerichtsgleichnis lässt den richtenden König sagen: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Es ist die in der hebräischen Sprache „Gerechtigkeitstat“ – Zedaka – genannte Tat an den Bedürftigen gemeint, die zählt. Mit solchen Wohltaten, die das Unwohlsein Leidender lindern, machen wir deutlich, dass diese für uns zählen. Die „geringsten Brüder“ bezeichnen dabei nicht zuerst eine soziologisch beschreibbare Schicht als Unterschicht oder eine Klasse der Deklassierten, sondern unseren „Nächsten“, also die Person, die Not leidet und einen konkreten Mangel hat: Hunger, Durst, Fremdheit, Nacktheit, Krankheit, Gefängnis – und beschreibt also in zweiter Linie durchaus Personen insgesamt, deren Existenz vielfältigen Mängeln ausgesetzt sind. Diese genannten Mängel – und überhaupt Mängel wie diese – sind gemeint und schließen dann selbstverständlich Armut, Gewalt und Krieg ein. Mitzudenken ist die Fortsetzung der Reihe: Ich bin arm gewesen und ihr habt mit mir geteilt; ich habe Gewalt erfahren und ihr habt mich beschützt; ich war im Krieg und ihr habt für den Frieden gekämpft.

Unser Gerichtsbild wendet unsere Aufmerksamkeit auf die Sorge für den konkreten Fall, in dem sich unsere allgemeine Sorgepflicht erfüllt. Wir werden nicht den Hunger auf der Welt besiegen, und noch nicht einmal Jesus hat alle Kranken, die ihm begegneten, geheilt; aber wenn uns ein Hungriger begegnet oder wo wir Kranke sehen, sind wir nach unseren Möglichkeiten zur Hilfe gefordert. Der eine zählt, jeder einzelne zählt, weil alle zählen.

Aus unseren Möglichkeiten und mehr noch aus unseren Unmöglichkeiten zur Hilfe ergibt sich Gottes Zuständigkeit für das Große und Ganze. Am Weltgericht müssten wir Menschen uns verheben, schon ein Weltpolizist mutet sich zu viel zu. Aber Gott können wir das Gericht über die Welt überlassen. Auf seine Gerechtigkeit und auf seine Gnade ist Verlass. Für ihn zählen alle Menschen.

21. Sonntag nach Trinitatis, 29.10.2023

So zog Abram herauf aus Ägypten mit seiner Frau und mit allem, was er hatte, und Lot mit ihm ins Südland. Abram aber war sehr reich an Vieh, Silber und Gold. Und er zog immer weiter vom Südland bis nach Bethel, an die Stätte, wo zuerst sein Zelt war, zwischen Bethel und Ai, eben an den Ort, wo er früher den Altar errichtet hatte. Dort rief er den Namen des Herrn an. Lot aber, der mit Abram zog, hatte auch Schafe und Rinder und Zelte. Und das Land konnte es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten; denn ihre Habe war groß und sie konnten nicht beieinander wohnen. Und es war immer Zank zwischen den Hirten von Abrams Vieh und den Hirten von Lots Vieh. Es wohnten auch zu der Zeit die Kanaaniter und Perisiter im Lande. Da sprach Abram zu Lot: Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind Brüder. Steht dir nicht alles Land offen? Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken. Da hob Lot seine Augen auf und sah die ganze Gegend am Jordan, dass sie wasserreich war. Denn bevor der Herr Sodom und Gomorra vernichtete, war sie bis nach Zoar hin wie der Garten des Herrn, gleichwie Ägyptenland. Da erwählte sich Lot die ganze Gegend am Jordan und zog nach Osten. Also trennte sich ein Bruder von dem andern, sodass Abram wohnte im Lande Kanaan und Lot in den Städten jener Gegend. Und Lot zog mit seinen Zelten bis nach Sodom. Aber die Leute zu Sodom waren böse und sündigten sehr wider den Herrn. (Mose 13,1-12)

Wie lässt sich ein Streit schlichten, wie Konflikte lösen, wie Kriege wenigstens begrenzen? Das dürfte die 1 Millionen-Schekel-Frage sein, nicht nur in unserer Zeit, sondern immer und zu allen Zeiten – aber eben auch gerade jetzt.

Und unser Predigttext schlägt zur Lösung des Streits vor, dass sich die Konfliktparteien um Lot und Abram, der später Abraham heißen wird, trennen: Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken. Klingt vernünftig, denn manche Konflikte lassen sich wohl nicht anders als durch Trennung lösen, im Privaten, etwa in zerrütteten Ehen; im Beruflichen, etwa in ungedeihlichen Arbeitsverhältnissen; oder – wie wir heute hören – unter Nachbarn, wobei von Vorteil ist, wenn die Konfliktparteien mobil und nomadisch sind und die Gegend groß und weit.

Ausgerechnet die von unserer Geschichte erzählte Konfliktlösung scheint aber nicht hilfreich und nicht anwendbar zu sein auf den großen Konflikt um ein und dasselbe kleine, ja winzige Land, der uns gerade so erschüttert. Seit drei Wochen lässt uns das Geschehen in Israel und Palästina nicht los, die unfassbare Gewalt einer Mörderbande vornehmlich gegen Kinder und Frauen, gegen feiernde Jugendliche und freundliche Greise, gegen Juden im Staat der Juden; der sich seit dem Terroranschlag am 7. Oktober nun gegen diese Gewalt wehrt, wie es jeder Staat tut und tun würde, um die Täter zu bestrafen und es ihnen unmöglich zu machen, ihre Taten zu wiederholen. Und weil diese Täter sich mitten in der Bevölkerung aufhalten, sich zwischen Wohnungen und unter Krankenhäusern verstecken, gefährden und schädigen sie Leben und Güter derer, die sie zu vertreten vorgeben. Während das Leid der Opfer in Israel und Palästina gleich viel zählt und in gleicher Weise zu beklagen ist, sind die Mörder der Hamas für beides verantwortlich und für beides verantwortlich zu machen.

Allerdings wird deren Beseitigung kaum zum Ende der Gewalt führen – nicht nur aber auch, weil die Gegner dieses Streits ein und dasselbe Land beanspruchen und weil dieses Land selbst so winzig klein ist (etwas größer als Hessen und nicht halb so groß wie Bayern). Denn die berühmte Zwei-Staaten-Lösung, die eine Trennung der Streitenden ganz im Sinne unserer Trennungsgeschichte von Abraham und Lot vorsieht, scheitert nicht erst am Willen zum Frieden sondern am schieren Mangel an Platz, der eine Aufforderung zur friedlichen Trennung unmöglich erscheinen lässt: Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken. Wie soll das gehen, wenn sich Streitende auch nach der Trennung täglich sehen und über den Weg laufen? Trennung, aber, in ein und demselben Land wäre Apartheid, die Israel jetzt schon von vielen Verleumdern zu Unrecht vorgeworfen wird.

Auch unsere Geschichte weiß von den Kontexten der Gewalt, in denen die jeweiligen Gewaltgeschichten eingebettet sind, von wo sie kommen und wohin sie führen. Wie ein Fluch liegt der Satz über Sodom über ihr: Aber die Leute zu Sodom waren böse und sündigten sehr wider den Herrn. Was neuen Ärger und neuen Streit mit den neuen Nachbarn von Lot bedeutet – und was sich bewahrheitet. Anders als für Abraham, der zum Stammvater vieler Völker wird, geht die Geschichte für Lot übel weiter und übel aus. Die Frau erstarrt auf der Flucht beim Zurückblicken zur Salzsäule, die Töchter erschleichen sich inzestuöse Nachkommen von ihrem saufenden Vater, was ein Elend! Und selbst diesen Nachkommen als Moabiter und Ammoniter bleiben die Nachfahren Abrahams untrennbar verbunden, selten zum Guten, meistens zum Schlechten.

Wenn sich Segen und Fluch so sichtbar wie bei Abraham und Lot – oder eben so sichtbar am Lebensstandard und Entwicklungsstand wie in Israel und Palästina – ablesen lassen, wird das genug Grund für neuen Streit geben: um Güter und Lebensmöglichkeiten, um Ansehen und Einfluss. Wir scheinen an unsere Nachbarn als unsere möglichen oder eben als unsere wirklichen Feinde unlösbar gekettet zu sein. Nachbarn zeigen uns nämlich, wie wir sein könnten und wie es uns gehen könnte – im Guten wie im Schlechten. Und deshalb ist die alttestamentliche Forderung zur Nächstenliebe nicht das fromme Sätzchen, für das wir es vielleicht halten, sondern bekommt in der Verschärfung durch Jesus, noch Nächsten zu lieben, wenn er mein Feind ist, von der wir heute in der Lesung gehört haben, ihren Sinn.

Erst wenn ich – so scheint es Jesus im Sinne seiner jüdischen Lehrer zu fordern: erst wenn ich im Feind mich selbst sehe und dieser sich in mir, besteht Aussicht auf ein Ende des Streits. Umgekehrt wird der Mangel an Empathie für das Leid der anderen mein eigenes Leid auf Dauer nur vergrößern. Angewendet auf unseren tragischen aktuellen Fall: Selbstverständlich hat das Land Israel jedes Recht sich zu verteidigen – und dennoch wird die Ausübung dieses Rechts neues eigenes Leid nicht verhindern, vom unermesslichen Leid palästinensischer Zivilisten, unzähliger unschuldiger Kinder zu schweigen. Und selbstverständlich haben die Palästinenser jedes Recht ihr Leid zu beklagen und die Ursachen zu bekämpfen, aber auch das wird unweigerlich zu neuem Leid führen.

Und so hören wir heute in Lesung und Predigttext von zwei genialen, aber streng gegensätzlichen Konfliktstrategien – von der pragmatischen Trennung von Feinden einerseits und andrerseits von der utopischen Liebe unter Feinden, die aber beide mit demselben Fehler behaftet sind, dass sie großartig in der Theorie aber untauglich in der Praxis – und dreimal untauglich in der Realität des Landes Israel sind. Jedes Schulkind weiß sofort, dass Liebe unter Feinden und das Hinhalten der anderen Backe nicht funktionieren und im Desaster enden werden, muss es das eigentlich? Und jeder kann sich einen Schulatlas nehmen und nachschauen, dass da kein Land für zwei Staaten ist, wo ja kaum Land für einen da ist. Was bleibt?

Es bleibt unsere Möglichkeit zu Empathie und Solidarität mit den Opfern und Hilfe für sie auf beiden Seiten dieses garstigen Grabens.

Es bleibt unsere Verantwortung für Gerechtigkeit, zu der auch die Einsicht in eigene Verstrickung und Schuld gehört.

Und es bleibt die Hoffnung, von der wir auch heute lesen, dass Gott Lösungen für Probleme findet, die für uns viel zu groß und zu schwer sind.

18. Sonntag nach Trinitatis, 8. Oktober 2023

(In der schriftlichen Fassung der Predigt selbst fehlt jeder Hinweis auf den Anschlag der Terroristen der Hamas auf Israel vom Vortag, dem 7. Oktober. Zu frisch, zu gewaltig und unbearbeitet sind die Eindrücke dieses Verbrechens, dem Hunderte von jüdisch-israelischen Zivilisten, darunter zahlreiche Babys, Kinder, Jugendliche und Greise zum Opfer fielen, um in die Predigt einzufließen. Dabei wurde es ausgerechnet am Schabbat und dem jüdischen Feiertag Simchat Tora verübt, der die dem Judentum wesentliche Freude über Gottes Gebot zum Ausdruck bringt und eigentlich mit fröhlichem Singen und Tanzen gefeiert wird – in friedlichen Zeiten. K.N.)

Und Gott redete alle diese Worte:

Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.

Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.

Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.

Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.
Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht ehebrechen.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat. (2. Mose 20.1-17)

Ausgerechnet an dem Tag, an dem wir uns einen Landtag wählen, den Gesetzgeber für die Belange unseres schönen Bundeslandes Hessen, und damit mittelbar eine Regierung und einen, der dieser als Ministerpräsident vorsitzt – ausgerechnet heute hören wir die 10 Worte des berühmtesten Gesetzgebers der Menschheitsgeschichte, den Gott sich für sein Volk erwählt und den sich sein Volk als Mittler zu Gott erwählt hat – auf den also auch wir, die wir nicht ursprünglich zum auserwählten Volk gehören, hören dürfen. Schaden wird es nichts, nützt es was? Sind diese uralten 10 Gebote mehr als religiöse Folklore oder ethische Altertumskunde? Was haben sie uns und was haben sie uns gerade heute zu sagen? Hier kommen 9 Angebote die 10 Gebote zu vergegenwärtigen:

1. Zuerst tun wir gut daran, die Bindung unseres Textes an eine längst vergangene Zeit nicht zu überlesen und ihn nicht unmittelbar für ein zeitloses, schon immer gültiges und für immer geltendes universales Gesetz zu halten, als das es zunächst nicht gedacht war und zu dem es erst mit der Zeit gemacht wurde. Denn zumindest nach der Erzählung des Alten Testaments folgt die Übermittlung der 10 Gebote – und zahlreicher weiterer Rechtsordnungen – der Befreiung der Israeliten aus Ägypten und dem Durchzug durchs Schilfmehr.

Der Exodus begründet – zumindest als theologische und historische Idee – die Entstehung des Volkes Israel und seine besondere Beziehung zu Gott. Beides – der Exodus und die 10 Gebote – stehen somit in unmittelbarem Zusammenhang, so dass sie gelegentlich als Gebote der Befreiung oder sogar der Verfassung des Volkes Israel genannt wurden. Dem entspricht, dass Gott der Herr sich im ersten Gebot als der gegenüber seinem Volk definiert, „der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“. Gesetze und sogar Grundgesetze sind immer zeitgebunden und reagieren auf ihren historischen Kontext. Das wird auch für die vom heute gewählten hessischen Landtag gelten.

2. Wenn das erste Gebot „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ die Konkurrenz anderer Götter zurückweist, erinnert uns das an einem Wahltag daran, jede Überhöhung des Staates abzuwehren, und auch daran, dass eine Trennung von Kirche und Staat, beiden gleichermaßen angemessen ist und gut tut; nach den Worten der Barmer Theologischen Erklärung: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen“. Was für unsere gegenüber 1934 ungleich friedlichere und unangefochtenere Zeiten dennoch heißen kann, dass moralische Überhöhungen oder sogar Absolutsetzungen durch staatliche Akteure zurückzuweisen sind. Staatliche Gesetze sind offensichtlich keine göttlichen Gebote, genauso wenig wie Gerichtsurteile oder unsere Wirtschaftsordnung.

3. Andrerseits verbinden die 10 Gebote moralische mit Glaubensgesetzen so untrennbar, dass die einen als Grundlage der anderen deutlich werden, frei nach dem berühmten Satz des Verfassungsrechtlers Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Und an die – ohne falsche Konfliktscheu – zu erinnern, doch wohl auch unsere Aufgabe als Christen in Staat und Land ist, zumal der dem Grundgesetz vorgesetzte Gottesbezug „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …“ der Hessischen Landesverfassung leider fehlt. Wäre doch schade, wenn diese Erinnerung ausgerechnet bei uns verloren ginge.

4. Während in den 10 Geboten Bilder verboten zu werden scheinen, spielen sie gerade im Wahlkampf aber auch sonst im politischen Wettbewerb eine überragende Rolle, einerseits natürlich zurecht, denn man muss ja wissen, wer das Volk vertritt; andererseits doch zu Unrecht in dem Maße, in dem sie verfälschen, beschönigen oder entstellen, und damit ja gerade verhindern zu wissen, wer das ist. Wer stattliche vielstellige Haushaltposten für seine Visagisten und Coiffeure ausgibt oder seine Plakate bis zur Unkenntlichkeit retouchieren lässt, scheint nicht unbedingt daran interessiert zu sein, etwas von sich preiszugeben. Und ziemlich genau dagegen richtet sich das biblische Bilderverbot: gegen die Verfügbarkeit durch zu gute und die Verfälschung durch zu schlechte Bilder.

5. Mit dem Bilderverbot, dem Blasphemieverbot und dem Feiertagsgebot sind drei Gebote zu Gottes Schutz formuliert, die im säkularen Staat keine Geltung für sich beanspruchen können, die uns aber aktuelle Denkaufgaben stellen, wie wir ja schon in der Bilderfrage gesehen haben. Auch das Verbot zu lästern lässt sich ohne weiteres auf unseren Umgang mit Medien anwenden, nicht zuletzt auf die sogenannten sozialen Medien. Besonders relevant aber erscheint das Feiertagsgebot, zumal wenn seine religiöse Begründung nicht mehr für den gesetzlichen Schutz ausreicht. Der arbeitsfreie wöchentliche Feiertag – zunächst wie gesagt als Heiligtum Gottes in der dahinfließenden Zeit gedacht – ist längst Freiraum der Menschen und Symbol gegen seine absolute Verfügbarkeit als Arbeitskraft und Rädchen im Wirtschaftsbetrieb.

6. Jede Gesellschaftsordnung, auch unsere hessische, gründet auf einen Generationenvertrag, also irgendeine Form von Respekt zwischen Alten und Jungen, und hier scheint in den 10 Geboten tatsächlich ein Mangel vorzuliegen, wenn dieser Respekt nur in eine Richtung gefordert wird: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“. Ich glaube aber nicht, dass wir den Geboten Gewalt antun, wenn wir hier grundsätzlich Gegenseitigkeit mitdenken und dann eben im gesellschaftlichen Bereich den scheinbar natürlichen Generationenegoismus durch Empathie für die Lebenszeit zähmen, die nicht mehr oder noch nicht die eigene ist. Auf abgetakelte Boomer oder nörgelnde jugendliche Faulenzer zu schimpfen, ist so ziemlich gleich lächerlich, wenn ich mir bewusst mache, dass jeder das eine wie das andere gewesen sein oder werden wird.

7. Die nachfolgenden vier Gebote: nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht lügen, stehen für viele für den eigentlichen und universellen Kern der 10 Gebote; nicht ganz zu Unrecht, denn keine Gesellschaft dürfte Bestand haben, die den Schutz des Lebens, der Beziehung, des Eigentums, der Wahrheit – nicht fordert und nicht selbst zu garantieren versucht. Dabei gewichtet hier jede Zeit und jede Gesellschaft anders: Wer gerade noch gedacht hat, dass ein absolutes Wahrheitsgebot ein lebensfernes Ideal darstellt, sehnt sich im Zeitalter von Fake News und Deep Fakes bitter danach; und wer meinte, dass zumindest der Lebensschutz bei uns unhinterfragbar ist, reibt sich die Augen, wenn ausgerechnet ein deutsches Verfassungsgericht die staatliche Beihilfe zur Selbsttötung zum Menschenrecht erklärt. Keins dieser scheinbar selbstverständlichen Gebote versteht sich von selbst, noch nie.

8. Beim Verbot des Begehrens fremder Güter schließlich sollte man sich nicht lange daran stören, dass in einer patriarchalen Ordnung die patriarchale Unterordnung der Frau und ihre Einordnung in einen Güterkatalog festgeschrieben steht, so schlimm wie erwartbar das ist (Gesetze sind immer zeitgebunden! Siehe oben). Sondern wir sollten wahrnehmen, dass die Absage an jede Form des Fremdbegehrens, jede Form der Gier das volle Gewicht als Abschluss dieser elementaren Gebotsliste trägt. Mein Verzicht schützt meinen Nächsten – als Fluchtpunkt und Ziel der Gebote.

9. Womit wir bei der handlichen, schon bei Mose vorfindlichen und von Jesus an uns weiterempfohlenen Zusammenfassung der 10 Gebote sind:

„Du sollst Gott den Herrn lieben mit ganzer Seele, mit ganzem Herzen und aller deiner Kraft – und deinen Nächsten wie dich selbst.“

Eine Wahlempfehlung kann man daraus nicht ableiten, aber eine für ein gutes Leben. Amen.

16. Sonntag nach Trinitatis, 24. September 2023

Darum werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld aber habt ihr nötig, auf dass ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt. Denn „nur noch eine kleine Weile, so wird kommen, der da kommen soll, und wird nicht lange ausbleiben. Mein Gerechter aber wird aus Glauben leben. Wenn er aber zurückweicht, hat meine Seele kein Gefallen an ihm“ (Habakuk 2,3-4). Wir aber sind nicht solche, die zurückweichen und verdammt werden, sondern solche, die glauben und die Seele erretten. (Brief an die Hebräer 10,35-39)

„Ruhig-Geduldig“ prangte es auf den leicht überdimensionierten Schildern einer Wiesbadener Fahrschule in den 70er und 80er Jahren, an die sich sicherlich noch manche Ureinwohner erinnern, besonders die, die wie ich, dort ihr Fahrdiplom erwarben. Die Geduld zahlte sich aus, zuerst für den geduldigen Inhaber Manfred Hardel, der lieber noch ein paar mehr Fahrstunden empfahl, wie auch für die zwar teuer aber bestens unterrichteten Fahrstudenten wie mich und doch auch nicht zuletzt für die verkehrsteilnehmende Allgemeinheit. Gerade in unserer schönen Heimatstadt dürfte Geduld die eine Kernkompetenz sein, die ob nun vor der Pförtnerampel oder im dicksten Innenstadtgewühl, nun zwar nicht weiter aber den Alltag bestehen hilft. „Ruhig-Geduldig“ – der Fahrlehrer nicht nur als philosophischer Freund der Weisheit sondern auch als Prophet – ein echter Habakuk.

Geduld ist keine unumstrittene Tugend. Wenn uns einer sagt: „Jetzt gedulden Sie sich, bitte!“ kann das ja auch unseren Unwillen hervorrufen und damit eine vielleicht schon vorhandene Ungeduld noch vergrößern, insbesondere wenn uns der Grund des Aufschubs nicht einleuchtet. Manchmal – das lehrt die Erfahrung – hilft ja gerade nicht Geduld, um zu seinem Recht zu kommen, sondern eher ein energisches Auftreten, klare Forderungen oder gleich selbst die Sache in die Hand zu nehmen. Was natürlich nicht überall möglich ist, da ich mich im Supermarkt nicht selbst abkassieren – zumindest noch nicht überall – und im Wartezimmer schlecht selbst behandeln kann. Aber es gibt sicherlich Fälle, in denen ich nicht geduldig die Lösung meiner Probleme anderen überlassen, sondern selbst angehen sollte. Solche Ungeduld könnte dann sogar für eine Tugend gehalten werden – zum „nützlichen Fehler“ werden – wie sie in schlauen Bewerbungsmanuals empfohlen wird: Wenn nach den eigenen Fehlern gefragt würde, dann sei es hilfreich, sich selbst der Ungeduld zu bezichtigen. Ob das der Einstellungskommission wirklich mehr sagt, als dass der Kandidat die einschlägigen Ratgeber zur Kenntnis genommen hat, sei dahingestellt.

In jedem Fall empfiehlt es sich, genau zu prüfen, zu unterscheiden und zu entscheiden, ob es sich um einen Fall für die Geduld oder für die Ungeduld handelt; ein bisschen so wie in dem Gebet, dass uns immer wieder mal in den Sinn kommt, wenn es um solche Fragen der Geduld, oder des Gehorsams oder der Gelassenheit handeln könnte:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Geduld ist also dann gefragt, wenn mein Handeln ohnehin nichts ändert, während sie dann, wenn meine Intervention die Sache voranbringen oder sogar Schaden abwenden könnte, die falsche Wahl wäre. Geduld schließt überdies die Erwartung ein, dass sie sich lohnt: Es besteht die berechtigte Erwartung, dass sich das gewünschte Ergebnis einstellt, und zwar ohne dass ich dazu entscheidend beitragen könnte. Warten in Erwartung: das ist Geduld.

Der heutige Predigttext, ein Abschnitt aus dem Brief an die Hebräer, empfiehlt die Geduld als unverzichtbares Merkmal des Glaubens und beschreibt den Glauben als Warten in der Erwartung des Gottessohnes. Das leuchtet sofort ein. Was könnten wir dazu beitragen, den Himmel zu öffnen und Gott auf die Erde zu ziehen? Absurd! Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Was der berühmte Remo Largo ungeduldigen Eltern und Lehrern als pädagogische Wahrheit sagt, stimmt auch theologisch. Nicht wir entscheiden oder beeinflussen auch nur, wann sich Gott zeigt und wann er sein Reich errichtet. Und alle Versuche das menschlicherseits in die Hand zu nehmen oder auch nur zu beschleunigen, müssen fehlschlagen und sind eben auch fehlgeschlagen, meist ziemlich grauslich und blutig. Glauben heißt Geduld, heißt Warten in Erwartung.

Vielleicht ist damit aber noch nicht alles gesagt. Denn auch wenn unser Predigttext des Autors an die Hebräer besonderes Gewicht auf die Bewährung des Glaubens in der Geduld und im Aushalten von Verfolgung und Not legt, so dass er im unmittelbaren Anschluss unserer Stelle den Glauben in einer klassischen Formulierung insgesamt als „eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“, bezeichnet, in einer Art Grunddogma des Glaubens als Wirklichkeitsverweigerung; wendet der Prophet Habakuk, den der Hebräer hier zitiert und auslegen will, den Blick unmittelbar auf die Wirklichkeit seiner Welt, die sich wenig von der ungerechten Wirklichkeit unserer heutigen Welt unterscheidet: „Der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben. So wird auch der treulose Tyrann keinen Erfolg haben, der stolze Mann nicht bleiben, der seinen Rachen aufsperrt wie das Reich des Todes und ist wie der Tod, der nicht zu sättigen ist. … Weh dem, der sein Gut mehrt mit fremden Gut – wie lange wird’s wären?“ (Habakuk 2,4-6*)

Der Glauben ist wartender und zugleich wachender Glaube; er „sagt, was ist“, und hält das zwar noch nicht für die „revolutionäre Tat“ (Rosa Luxemburg) aber für seine selbstverständliche Aufgabe: also den Fürsten ihre Macht, ihre Taten und Untaten zu spiegeln; ihnen zu sagen, was ist; die von den Mächtigen geschaffene Wirklichkeit abzugleichen mit den Maßstäben der Gerechtigkeit. Warten heißt nicht Stillhalten, Geduld nicht Resignation; sondern heißt die gegenwärtigen Nöte und Bedrängnisse mit der Erwartung einer von Gott bestimmten Zukunft zu konfrontieren – für sich im Herzen und laut für die anderen. Dem „es war schon immer so“ ein „es wird anders werden“ entgegenzusetzen – und dabei doch nicht den eigenen Willen mit dem Willen Gottes zu verwechseln.

Glauben trägt die Geduld, die weiß, dass ihre Stunde kommen wird. Amen.

14. Sonntag nach Trinitatis, 10. September 2023

Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch das Gebiet zwischen Samarien und Galiläa zog. Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! Und da er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein.Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen. (Lukas 17, 11-19)

„Ich danke Gott, … dass ich bin“ hat mir einmal – es ist einige Zeit her – mein Jugend- und Lieblingspfarrer hier in Wiesbaden auf dem Markt am Samstagmorgen bei einer zufälligen Begegnung auf die Frage geantwortet, wie es ihm gehe. „Guten Morgen, wie geht es ihnen, Herr Geißler!“ – Ich wusste, dass er krank gewesen, aber nicht wie weit seine Genesung gediehen war. Und darauf antwortete er mir freudestrahlend – vor Freude strahlen, dass konnte und das kann er gut – wie gut es ihm gehe und wie dankbar er dafür sei und wie sehr er sich darüber freue, mit einem Dichtervers: „Ich danke Gott, und freue mich/ Wie’s Kind zur Weihnachtsgabe, / Daß ich bin, bin!“.

Das Gedicht kannte ich nicht, hatte auch seinen Dichter Matthias Claudius bisher meistens mit einem gewissen Hochmut umgangen – so kindlich, so fromm; aber mit den Worten meines Pfarrers, seinem Ton und seinem Gesichtsausdruck hat es mich überzeugt; und überzeugt mich noch heute durch seine nur scheinbar naive Lebens-Dankbarkeit als Freude über das Dasein; darüber, dass etwas ist und nicht etwa nichts ist; und dass ich bin und sein darf, und dadurch zum Zeugen des von Gott geschaffenen Daseins werden kann. Die Freude über mein Leben bezeugt Gottes Schöpfung.

Matthias Claudius: Täglich zu singen

Ich danke Gott, und freue mich
         Wie’s Kind zur Weihnachtsgabe,
Daß ich bin, bin! Und daß ich dich,
         Schön menschlich Antlitz! habe;

Daß ich die Sonne, Berg und Meer,
         Und Laub und Gras kann sehen,
Und abends unterm Sternenheer
         Und lieben Monde gehen;

Und daß mir denn zumute ist,
         Als wenn wir Kinder kamen,
Und sahen, was der heil’ge Christ
         Bescheret hatte, amen!

Ich danke Gott mit Saitenspiel,
         Daß ich kein König worden;
Ich wär geschmeichelt worden viel,
         Und wär vielleicht verdorben.

Es folgen noch ein paar Verse, aber die punchline des Gedichts steht eigentlich schon in der ersten Zeile: „Ich danke Gott, dass ich bin“. Hier äußert sich das Selbstverständliche, aber so, dass es mir erst bewusst wird, erst so geäußert, und so erst gefühlt und erlebt werden kann.

Wie das Staunen der Anfang der Philosophie: Warum ist eigentlich etwas und nicht nichts? – so ist der Dank der Anfang des Glaubens. Dank ist unsere Antwort auf die Gnade Gottes, der „das Sein aus dem Nichtsein ruft“ (Römer 4,17), „der dich vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.“ (Psalm 103,4) Dank, verwunderter Dank ist der einzig angemessene Ausdruck für die Erkenntnis der Gnade. „Ich danke dir, dass du mich wunderbar gemacht hast. Wunderbar sind deine Werke. Das erkennt meine Seele.“ (Psalm 139,14) Das Selbstverständliche nicht für einen Anspruch zu halten, das kommt im freien Dank für freie Gnade zum Ausdruck.

Bleibt eigentlich nur noch die Warnung vor falschem Dank, die der Evangelist Lukas eine paar Zeilen weiter im nächsten Kapitel am Beispiel des „Pharisäers“ (der freilich nur eine Karikatur der rabbinischen Gottesgelehrten darstellt) ausspricht: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie die anderen …“(Lukasevangelium 18,11) Einen Dank, der sich nur selbst vergrößert, andere ausschließt, ungerecht oder rein taktisch verteilt wird, kann man sich schenken. Auch danken dürfen und danken müssen – „Hast du auch Danke gesagt?!“ – machen sich verdächtig. Dank für etwas, dass der Dankende gar nicht kennt oder weiß – die Kernkompetenz schlechter Vorgesetzter und Dienstherren – stößt auf; und wenn Dank gleich wieder von einer Bitte begleitet oder von einer Forderung gefolgt wird, verbittert er und verbietet sich. Dankbarkeit erfordert Denkarbeit; und wenn darunter die Spontaneität leiden sollte, muss halt schneller gedacht werden, damit der Dank nicht zu spät kommt. Dank lebt von Gelegenheiten.

Vielleicht hatten die neun anderen geheilten Aussätzigen ja noch vor, ihrem Wohltäter zu danken; vielleicht mussten sie in ihrem Überschwang des Geheiltseins erstmal das neu geschenkte Dasein genießen – sich freuen, dass sie sind! – also: über Wiesen springen und an Blumen schnuppern, sich nach den Einschränkungen ihrer Krankheit erstmal frei fühlen; und vielleicht hatten sie den Dank noch fest vor, nach der ersten Feier des Daseins.

So dürfen wir damit rechnen, dass der, der gesagt hat, dass die rechte Hand nicht wissen soll, was die linke tut, etwas großzügiger als sein Chronist mit der fehlenden Dankbarkeit umgegangen wäre. Vielleicht war ihm ja dir Freude der Geheilten – welche Freude kann größer als die über eine Heilung, eine Genesung! – Dank genug. Und vielleicht haben sie ja bei der nächsten Gelegenheit den gesparten Dank obendrauf gelegt.

Immerhin gab es einen unter den 10 Geheilten, der sich gefreut und gedankt hat, und den wir uns doch wohl als Vorbild genauer anschauen sollen. Keine besondere Kompetenz zeichnet ihn vor den anderen aus und doch unterscheidet ihn, den Fremden, den „aus anderem Volk Stammenden“ („allogenes“), etwas von den anderen, nämlich sein „Anders-sein“, das mehr ist als die Zugehörigkeit zu einer als fremd und feindlich gesehenen Gruppe. Sein Fremdsein befähigt ihn offensichtlich, seine Genesung nicht für die Erfüllung, die Einlösung eines Anspruchs zu halten. Vielmehr vermag er die Selbstverständlichkeit seines Daseins als Kostbarkeit zu empfangen: Sich selbst und seinen Ansprüchen so fremd zu werden, dass das eigene Sein als Gnade empfunden und eigentlich empfangen werden kann.

12. Sonntag nach Trinitatis, 27. August 2023 – Sommerkirche Wasser und Meer: Der Schiffbruch des Paulus

Als es aber beschlossen war, dass wir nach Italien fahren sollten, übergaben sie Paulus und einige andre Gefangene einem Hauptmann mit Namen Julius von der kaiserlichen Kohorte. Wir bestiegen ein Schiff aus Adramyttion, das die Häfen der Provinz Asia anlaufen sollte, und fuhren ab; … Und am nächsten Tag kamen wir in Sidon an; …

Und von da stießen wir ab und fuhren im Schutz von Zypern hin, weil uns die Winde entgegen waren, und fuhren auf dem Meer entlang der Küste von Kilikien und Pamphylien und kamen nach Myra in Lykien. Und dort fand der Hauptmann ein Schiff aus Alexandria, das nach Italien ging, und ließ uns darauf übersteigen. Wir kamen aber viele Tage nur langsam vorwärts und gelangten mit Mühe bis auf die Höhe von Knidos, denn der Wind hinderte uns; und wir fuhren im Schutz von Kreta hin bei Salmone und kamen kaum daran vorüber und gelangten an einen Ort, der »Guthafen« heißt; nahe dabei lag die Stadt Lasäa.

Da nun viel Zeit vergangen war und die Schifffahrt bereits gefährlich wurde, weil auch das Fasten (im Herbst) schon vorüber war, ermahnte sie Paulus und sprach zu ihnen: Ihr Männer, ich sehe, dass diese Fahrt mit Leid und großem Schaden vor sich gehen wird, nicht allein für die Ladung und das Schiff, sondern auch für unser Leben. Aber der Hauptmann glaubte dem Steuermann und dem Schiffsherrn mehr als dem, was Paulus sagte. Und da der Hafen zum Überwintern ungeeignet war, bestanden die meisten von ihnen auf dem Plan, von dort weiterzufahren und zu versuchen, ob sie zum Überwintern bis nach Phönix kommen könnten, einem Hafen auf Kreta, der gegen Südwest und Nordwest offen ist.

Als aber ein Südwind wehte, meinten sie, ihr Vorhaben wäre schon gelungen; sie lichteten den Anker und fuhren nahe an Kreta entlang. Nicht lange danach aber brach von der Insel her ein Sturmwind los, den man Nordost nennt. Und da das Schiff ergriffen wurde und nicht mehr gegen den Wind gerichtet werden konnte, gaben wir auf und ließen uns treiben.

Wir kamen aber an einer Insel vorbei, die Kauda heißt, da konnten wir mit Mühe das Beiboot in unsre Gewalt bekommen. Da sie aber fürchteten, in die Syrte zu geraten, ließen sie den Treibanker herunter und trieben so dahin. Da wir großes Ungewitter erlitten, warfen sie am nächsten Tag Ladung ins Meer. Und am dritten Tag warfen sie mit eigenen Händen das Schiffsgerät hinaus. Da aber viele Tage weder Sonne noch Sterne schienen und ein gewaltiges Ungewitter uns bedrängte, war all unsre Hoffnung auf Rettung dahin.

Als aber die vierzehnte Nacht kam, seit wir in der Adria trieben, wähnten die Schiffsleute um Mitternacht, dass sich ihnen Land näherte. Und sie warfen das Senkblei aus und fanden es zwanzig Faden tief; und ein wenig weiter loteten sie abermals und fanden es fünfzehn Faden tief. Da fürchteten sie, wir würden auf Klippen geraten, und warfen hinten vom Schiff vier Anker aus und wünschten, dass es Tag würde.

Als es aber Tag wurde, kannten sie das Land nicht; einer Bucht aber wurden sie gewahr, die hatte ein flaches Ufer. Dahin wollten sie das Schiff treiben lassen, wenn es möglich wäre. Und sie hieben die Anker ab und ließen sie im Meer, banden die Taue der Steuerruder los, richteten das Segel nach dem Wind und hielten auf das Ufer zu. Und als sie auf eine Sandbank gerieten, ließen sie das Schiff auflaufen und das Vorderschiff bohrte sich ein und saß fest, aber das Hinterschiff zerbrach unter der Gewalt der Wellen.

Die Soldaten aber hatten vor, die Gefangenen zu töten, damit niemand fortschwimmen und entfliehen könne. Aber der Hauptmann wollte Paulus am Leben erhalten und wehrte ihrem Vorhaben und ließ, die da schwimmen konnten, als Erste ins Meer springen und sich ans Land retten, die andern aber einige auf Brettern, einige auf dem, was noch vom Schiff da war. Und so geschah es, dass sie alle gerettet ans Land kamen.

Und als wir gerettet waren, erfuhren wir, dass die Insel Malta hieß. Die Leute da erwiesen uns nicht geringe Freundlichkeit …

(Apostelgeschichte 27+28*)

„Gottes sind Wogen und Wind, Segel aber und Steuer, dass ihr den Hafen gewinnt, sind euer“

Was nicht wenige fromme Seefahrer an ihre Kirchen- und Häuserwände geschrieben haben – mit den Worten des seefahrenden und am Ende doch schiffbrüchigen (nämlich nicht in einem Sturm sondern in der Skagerrakschlacht 1916 als Matrose im Ausguck mit „seinem“ Schiff, des kleinen Kreuzers SMS Wiesbaden versunkenen) Dichters Gorch Fock (mit bürgerlichem Namen Johann Wilhelm Kinau) – und uns heutigen Urlaubern an Strand und Meer zu lesen und zu denken geben, ist so offensichtlich wahr, wie es gelegentlich zweifelhaft ist. Stimmt schon, dass wir von den natürlichen Bedingungen abhängig sind und innerhalb dieser Abhängigkeit Freiheit erleben und Verantwortung üben. So verstehe ich unseren Spruch: „Gottes sind Wogen und Wind, Segel aber und Steuer, dass ihr den Hafen gewinnt, sind euer“

Aber Gottes und Menschenanteile am Geschick auf hoher See lassen sich wohl nicht gar so klar und sauber unterscheiden – ließen sich das wohl noch nie und jetzt schon gar nicht mehr.

Wogen und Wind – gerade, wenn sie besonders bedrohlich sind, nie gekannte Stürme und Unwetter aufziehen lassen, die Fluten groß machen, Boote und Land verschlingen – sind nach allem, was wir wissen, mehr und mehr durchaus menschengemacht oder zumindest durch uns Menschen verstärkt – und eben nicht nur Gottes Sturm und Wellen.

Und wer von uns Landratten hätte schon Segel und Steuer selbst in der Hand? Schon immer waren doch für bloße Mitfahrer wie den Paulus, von dem wir heute hören, Segel und Steuer ja gerade nicht die seinen; so wie die meisten von uns Segel und Steuer an Bord nicht in der eigenen Hand haben; wenn wir auf Kreuzfahrtriesen, Fähren und Ausflugsbooten uns dem Skipper und seiner Crew anvertrauen – und vertrauen müssen, ihrem seefahrerischen Können und eben auch deren Einsicht, wenn manche Wetter keinen Verkehr auf hoher See zulassen.

So wie in diesem Sommer der große Sturm Hans vor ein paar Wochen, der über Nord- und Ostsee fegte, den Schiffsverkehr lahmlegte und noch die größten Pötte in die Häfen zwang. Wie von seinem eigenen klingenden Namen berauscht – Hans, Blanke Hans – ist der Sturm über Wasser und Land getobt und hat noch in den vermeintlich sicheren Häfen genug Schaden angerichtet, hat unter anderem die Fähre, die uns zwei Tage vorher noch sicher und ruhig auf unsere Insel geschippert hatte, nun so nachhaltig demoliert, dass sie lange Tage im Hafen zu liegen gezwungen war. Nichts lief mehr zwischen Küsten und Inseln, nur Wogen und Wind tobten über das Wasser; und noch am Land zog man lieber den Kopf ein, um nichts abzubekommen: „Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen/ Kommen wie rasende Rosse geflogen./ Trutz, blanke Hans“ (Detlev von Liliencron, 1883)

Weder Ostsee noch Mittelmeer sind als Binnenmeere berühmt für die wirklich großen Stürme, die Taifune und Hurrikane, aber kein Küstenbewohner, kein Seefahrer dort würde die Wetter unterschätzen, die gerade im Herbst sich bilden und im Süden über dem noch sommerlich warmen Wasser sogar regelrechte Zyklone entstehen lassen, in Anlehnung an die atlantischen Wetterphänomene und ihren eigenen Ort „Medicane“ genannt, aus den Begriffen „Hurricane“ und „Mediterranean“.

Der Beschreibung in der Apostelgeschichte des Lukas nach könnte es ein solches gewaltiges und gefährliches Unwetter im östlichen Mittelmeer gewesen sein, eingeleitet durch den dort regelmäßig auftretenden Nordwind, dann aber ausgeweitet und verstärkt zu einem tagelangen Unwetter, das die Fahrt der Schiffe unkontrollierbar zu einer Irrfahrt macht.

Wenn es nach dem Apostel Paulus gegangen wäre, hätte es zu dem Schiffbruch nicht kommen müssen. Zum einen war er ja als Gefangener ohnehin unfreiwillig unterwegs, wenn auch durchaus zu einem gewünschten Ziel, nämlich Rom; zum anderen zeichnet sein Biograph Lukas ihn als meteorologisch und nautisch weitaus kenntnisreicher und besonnener als die, die Segel und Steuer in der Hand haben, also Auftraggeber und Kapitän der Reise. Kein erfahrener Seereisender begibt sich auf See, wenn der ohnehin ungewisse Ausgang der Reise noch durch widrige Wogen und Wind in Herbst und Sturm verunsichert wird – scheint Paulus mit seinen vielen tausend gereisten Seemeilen – miles and more – zu sagen.

Es ist Zeit, den Apostel Paulus als Seefahrer – als christlichen Odysseus oder Sindbad, als antiken Heinrich oder Kolumbus – zu würdigen, der in seinem Leben tausende Meilen über See gefahren ist, Wind und Wogen getrotzt ist und noch immer einen Hafen fand, wenn auch wie in unserer Geschichte bisweilen erst nach Schiffbruch und Wassernot; Zeit, seinen Mut zu rühmen, trotz aller Widrigkeiten zu neuen Ufern aufzubrechen; seine Überzeugung, noch in Wogen und Wind von Gott getragen zu sein; seinen Eifer, das Evangelium, also das, woran sein Herz hing, bis an die Enden der Erde zu tragen, wo immer die sein mögen – in der Antike hat man sie in Spanien vermutet; dorthin ist Paulus nach einer alten Tradition ebenfalls gefahren.

Jetzt ist aber erstmal Rom das Ziel, Mittelpunkt des römischen Reiches, ja der ganzen Welt, wo dem Paulus als römischem Bürger der Prozess gemacht werden soll – und wo der Apostel bei dieser Gelegenheit sein Evangelium unter die Leute bringen will; brieflich ist das schon erfolgt, nun soll es auch live und in Person geschehen. Dazwischen liegen ein paar tausend Seemeilen – und eine herbstliche Odyssee in Wogen und Wind, die ihn aber trotz allem auf ziemlich direktem Wege vom Heiligen Land um Zypern herum über Kreta nach Malta führt, dort stranden lässt und dann aber doch glücklich über Syrakus – klingender Name! – in Sizilien, schließlich durch den Golf von Neapel an Capri vorbei nach Rom bringt, wie es der Chronist Lukas mit zugegebenermaßen etwas verdächtiger Detailgenauigkeit aufzeichnet. Nicht schlecht als Kreuzfahrt – aber in der paulinischen Version als Deckspassagier in der Holzklasse, Schiffbruch inklusive, eine ordentliche Strapaze.

Lukas zeichnet seinen Helden Paulus trotzdem, trotz Gefangenschaft, Fremdbestimmung, Sturm, Schiffbruch und Gefahr als stets souveränen und überlegenen Herrn seiner Lage, beinahe unberührt und jedenfalls ungerührt von allen Widrigkeiten. Er scheint anzunehmen, das geschehen muss, was geschehen muss; dass tatsächlich „Wogen und Wind“ Gottes sind, also dessen guten Willen unter dem zerstörerischen Gegenteil durchsetzen: Kreuzestheologie auf hoher See. Und dass selbst „Segel und Steuer“ nur sehr lose und unsicher in der Hand des Menschen liegen; als Passagier sowieso – und selbst als Kapitän mit größtmöglicher Autonomie auf hoher See eben doch abhängig von natürlichen und sozialen Abhängigkeiten aller Art – und sei es die eigene Abhängigkeit von früheren Entscheidungen: Wäre ich doch bloß nicht losgesegelt bei so einem Schietwetter!

So prägen den Apostel zum einen der nie erlöschende Eifer für seine Sache und gleichzeitig eine unwahrscheinliche Gelassenheit – noch mit dem Kopf unter Wasser und der Schiffsplanke in der Hand bewahrt er seine Ruhe, angewiesen zum nackten Überleben auf die unverdiente Freundlichkeit seiner Retter, die ihm und uns zum Bild der Gnade Gottes dienen. Denn das ist ja auch so eine Erfahrung, die Reisende machen, dass die Leute da – am fremden Ort – uns nicht geringe Freundlichkeit erweisen. Klar, erleben wir auch anderes, Paulus ja auch zu genüge; aber ich wette, dass jeder von uns auf seiner letzten Urlaubsreise, vielleicht diesen Sommer, dieses Jahr, auch so etwas erlebt hat – wie Paulus: unverdiente Freundlichkeit durch einen Fremden, der uns den Weg zeigt; der uns mit einem strahlenden Lachen im Restaurant begrüßt; der uns etwas von seinem Land, seinem Leben zeigt und sagt; oder durch jemanden, wie den Mann aus Afrika, der mir, weil ich nichts von ihm kaufen will, eine Kleinigkeit schenkt – übrigens auf einem Platz in Syrakus vor einem zur Kirche umgebauten Tempel der Minerva, den schon Paulus gesehen haben kann.

Und den Fremden, die uns hier begegnen, sei das ebenfalls zu wünschen: Philanthropie – wie es im Original heißt – Philanthropie unter Fremden als Bild der Menschenfreundlichkeit Gottes.

Was also bleibt? Die Abenteuergeschichte des Glaubens, wie sie Lukas erzählt, ist immer auch Roman einer Bildungsreise für uns, uns „hineinzubilden“ (nach einer Wendung Martin Luthers) in das Bild dessen, in dem die Menschenfreundlichkeit Gottes sichtbar geworden ist. Amen.

7. Sonntag nach Trinitatis, 23. Juli 2023

Die nun sein – des Petrus, aber eigentlich Gottes – Wort annahmen, ließen sich taufen; und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen. Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Es kam aber Furcht über alle, und es geschahen viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden. (Apostelgeschichte des Lukas 2,41-47)

3000 waren es nicht ganz, aber beinahe 30 Kinder und Erwachsene, die sich haben taufen lassen, das Wort annahmen und der Gemeinde Jesu Christi hinzugefügt wurden; ja und eine Mahlzeit mit Freude und gewiss lauterem Herzen und Würstchen und Brezeln und Eis hielten wir auch, lobten Gott mit Unterstützung von Ako Karim und seiner Band – und fanden damit durchaus Wohlwollen beim Volk, noch tags drauf spricht mich die Fischverkäuferin im Supermarkt darauf an, wie schön es war und dass so Kirche immer sein sollte: Ich rede natürlich vom Wiesbadener Tauffest am vergangenen Sonntag im Kurpark um den Weiher herum, dessen Idee es war, Taufe als fröhliches Fest des Ursprungs erfahrbar zu machen und gleichzeitig den anwesenden schon Getauften ihre Taufe als wunderbaren Anfang in Erinnerung zu rufen. Ich bin getauft, was für ein Wunder und was für eine Freude! Der Fischverkäuferin ist unbedingt recht zu geben: So sollte Kirche immer sein.

Geschichten und Legenden vom Anfang – oft über Generationen zurück – verfolgen ihren Zweck der Stärkung der Gegenwärtigen, indem sie die Anfänge durch ihre Vorstellungskraft verklären; durchaus Mühsale und Beschwernisse nicht verschweigen, aber nach deren Überwindung ein Goldenes Zeitalter zeichnen, perfekte Harmonie, glückliche Verhältnisse, die Vorväter und -mütter einmütig und fröhlich – mit dem deutlich vernehmbaren Seufzer, dass es doch wieder so sein möge, wie es nie gewesen ist. Denn dass es so nie gewesen ist, lässt sich eben doch nicht ganz verschweigen oder verbergen, noch nicht einmal von unserem Chronisten Lukas, wenn er in seinem Geschichtswerk – entgegen aller Harmoniebehauptungen – Fälle antiker Kirchensteuerhinterziehung in der Affäre um Hananias und Saphira, die tödliche Ausgrenzung des Stephanus oder das bittere Zerwürfnis der Erzapostel Petrus und Paulus berichtet und somit dunkle Flecken auf das rosarote Bild frühkirchlicher Eintracht kleckst.

Den Liebeskommunismus, wie Lukas ihn beschreibt – Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. – wird es eher nicht, oder jedenfalls nicht flächendeckend gegeben haben, aber doch Theorie und Praxis einer Armenfürsorge, die wenige Beispiele in der antiken Welt hatte und nicht wenig zur Attraktivität dieser Glaubensgemeinschaft beigetragen hat, die in kurzer Zeit von der obskuren jüdisch-orientalischen Sekte zur Staatsreligion des Imperium Romanum geworden ist. Als soziales Projekt, als utopisches Experiment wäre ihr das kaum gelungen – als dynamische, flexible, integrative Körperschaft öffentlichen Rechts und göttlicher Gerechtigkeit, die in sich solche erzählte Utopie überliefert, hat sie sogar das römische Reich überdauert, bis heute, wie lange noch?

Na vielleicht so lange es ihr gelingt, trotz allem solche Gelegenheiten zu schaffen der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet, trotz allem gemeinsame Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen zum Lobe Gottes und unter dem Wohlwollen der Menschen zu feiern; kurz also, trotz allem Kirche zu sein, wie sie sein sollund zwar wohl wissend und anerkennend, dass diese Kirche oft genug, viel zu oft anders ist und sich anders zeigt: Wenn es wie damals Streit um das Geld gibt, wenn wie damals Ausgrenzungen passieren, wenn wie damals die reine Lehre der Apostel längst nicht überall und selbstverständlich gilt.

Bei aller Verklärung der Anfänge und aller Sehnsucht danach, dass es wieder so schön sein soll, wie es nie gewesen ist – lassen sich auch durch die verklärende Erzählung des Lukas hindurch die vermutlich unvermeidlichen Umstände und Missstände kirchlichen Lebens erkennen, heute wie damals. Kirche unter den Bedingungen der Wirklichkeit heißt Kirche unter der Sünde, aber auch für die Kirche darf gelten, dass sie Sünderin und gerechtfertigt zugleich ist, simul justa et peccatrix. Dass die Kirche so oft ihren eigenen Auftrag verfehlt, soll uns empören, aber es darf uns nicht überraschen.

Für mich folgt daraus zweierlei: das Misstrauen zu pflegen gegenüber den eigenen maßlosen Ansprüchen, die sich auch in den Verklärungen einer angeblich perfekten Vergangenheit zeigen; und gleichzeitig die Erinnerung wachzuhalten an die durch Gott gesetzten Anfänge. Letztlich geht es um die Unterscheidung von Kirche und Gottes Reich. Die Kirche hat die Aufgabe an Gottes Reich zu erinnern aber nicht die Kraft, es herbeizuführen. Andernfalls überheben wir uns, werden überheblich, drohen zu zerbrechen.

„Jesus hat das Reich Gottes verkündet – gekommen ist die Kirche“ – in diesem berühmten Wort (des katholischen Theologen Alfred Loisy, 1857-1940) schwingt gleichermaßen Enttäuschung und Kritik mit; Enttäuschung darüber, dass das Reich Gottes, von dem Jesus sagte, dass es nahe herbeigekommen sei, bisher ausgeblieben ist, ja also nun schon eine ganze Weile ausgeblieben ist und nach menschlichem Ermessen auch in absehbarer Zeit ausbleiben wird, was die Hoffnung auf sein Kommen nicht wenig trübt. Soweit die Enttäuschung. Gleichzeitig formuliert das kluge Wort – übrigens eines katholischen Theologen! – eine Kritik gegen die Selbstverwechslung der Kirche mit dem Reich Gottes, mit allen bekannten verheerenden Implikationen. Wer sich selbst für heilig hält oder erklärt, kann seine Fehler nicht eingestehen und die Verbrechen, die unter seinem Dach geschehen, nicht aufklären. Die heilige Kirche ist Gegenstand des Glaubens und der Hoffnung, nicht der Anschauung und Erfahrung.

Bestenfalls bietet die Kirche einen Rahmen, in dem das Wort Gottes und seines unaufhaltsamen Reiches ausgesprochen und in ihren Sakramenten gefeiert wird. Die Kirche ist die Bedingung der Möglichkeit eines richtigen Lebens im falschen, wobei das richtige Leben nie vollständig, nie nachhaltig, nie in Reinform zu haben ist und gelebt wird, sondern immer bruchstückhaft, in kostbaren Momenten – Wunder und Zeichen – und dabei nie so eindeutig, dass es alle – etwa uns, immer? – überzeugen könnte – noch im verklärenden Blick zurück des Lukas sind die Tausenden Getauften eine Minderheit und das Wohlwollen des ganzen Volkes nicht dessen Bekehrung. Anders war Kirche nie.

Anstatt der eigenen Glaubensmüdigkeit nachzugeben, wollen wir daher heute unsere 30 Getauften für die 3000 des Lukas nehmen, das fröhliche Fest am vergangenen Sonntag für ein Wunder und Zeichen halten, mit dem uns Gott bestärkt und das Wohlwollen des Volkes genießen, solange es uns gewährt wird – ich bilde mir ein, dass meine freundliche Fischverkäuferin diesmal besonders schöne Stücke abgewogen und mitgegeben hat, was ich auf ihr Lob beziehe, das ihr und mir selten und daher kostbar war. Jede Freundlichkeit unter uns Menschen verweist auf die Menschenfreundlichkeit unseres Gottes. Amen.

5. Sonntag nach Trinitatis, 9. Juli 2023

Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Eabbi – das heißt übersetzt: Meister -, wo wirst du bleiben?   Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen’s und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde. Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte. Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels.Am nächsten Tag wollte Jesus nach Galiläa ziehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach! Philippus aber war aus Betsaida, der Stadt des Andreas und des Petrus. Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth. Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh!Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist. Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen. Nathanael antwortete ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das. Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn. (Johannesevangelium 1,35-51)

Was könnte Nathanael unter dem Feigenbaum gemacht haben?

Bevor wir, liebe Schwestern und Brüder, diese Frage allzu leichtfertig als unerheblich abfertigen – auch weil sie ja nicht zu beantworten ist, da die Bibel sich nicht weiter über diesen Nathanael äußert – sollten wir für uns klären, was wir unter einem Feigenbaum machen würden; was wir unter einem Feigenbaum machen.

Also ich genieße den Schatten unter meinem Feigenbaum, den ich zusammen mit meinem Erstgeborenen vor beinahe zwanzig Jahren gepflanzt habe und der – also der Baum, nicht der Sohn – mittlerweile einen mächtigen Stamm, eine erhabene Krone und mit ihr ein dichtes, aber luftiges Blätterdach ausgebildet hat. Gerade an diesen herrlich heißen Tagen des Sommers gibt es für mich keinen besseren Ort der Hitze zu trotzen als im Schatten meines Feigenbaumes, leichtbekleidet, ein schönes Buch, ein kaltes Getränk und die freundliche Gesellschaft meiner Lieben. Das ist das Paradies!

Und besonders weit hergeholt ist das jetzt auch nicht, einen solchen Ort unterm Feigenbaum für das Paradies zu halten, wenn doch schon Adam und Eva zu Feigenblättern als Sichtschutz ihres gerade erwachten Schamgefühls gegriffen haben: „Da wurden ihnen die Augen geöffnet und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“ (1. Mose 3,7) Feigen im Paradies.

Und trotz der noch unterm Feigenbaum befindlichen Gefahren durch allerlei Ungeziefer – sei es die Schlange im Paradiesgarten, sei es das Krabbelgetier in meinem – bleibt der Feigenbaum das Symbol des zwar verlorenen aber einst wiederzugewinnenden Paradieses, einer paradiesischen, friedlichen Endzeit, wie es die Propheten verkünden: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.“ (Micha 4,3f.)

Und solange also von anderswo – aus der Ukraine und anderswo – das Kriegsgeschrei in meinen Garten hineindringt und dröhnt und dort Feigenbäume – und nicht nur die – ausgerissen, zerhackt, verstümmelt, verbrannt, vernichtet werden, weiß ich wie vorläufig und zerbrechlich mein kleiner Paradiesgarten ist, was ihn umso kostbarer macht: mein kleines Glück im Paradies als Symbol und Vorgeschmack des großen, endgültigen.

Was immer Nathanael unter seinem – ganz gewiss ebenso kostbaren, friedlichen, paradiesischen – Feigenbaum gemacht hat: es wird ihm gefallen haben, so sehr dass er auf die Störung, man habe den Heiland gefunden, reichlich unwirsch reagiert: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Was geht mich das an? So geht es uns, wenn wir die von anderen für sensationell gehaltenen Nachrichten in eigener Beschäftigung oder Muße hören: So toll wird das schon nicht sein; hab´ ich etwa den Heiland gerade gesucht? Warum sollte mich begeistern, dass man ihn – angeblich – gefunden hat? Was wir natürlich wie gesagt nicht wissen, denn vielleicht hat ja Nathanael nach gut rabbinischer Sitte unter seinem Baum in seinen Büchern nach dem Heiland geforscht. Ist er da vielleicht nicht?

Dennoch macht sich Nathanael auf – „könnte was dran sein“ – vielleicht kennt er Philippus als seriösen Freund, der nicht zu religiösen Überspanntheiten neigt, vertraut ihm; jedenfalls verlässt er den Schatten seines Feigenbaums, betritt das helle Licht des Tages, das für ihn das noch hellere Licht der Gottesbegegnung wird, was er aber noch nicht weiß. Denn er bleibt zunächst skeptisch, spürbar zurückhaltend; kontert die forsche Begrüßung Jesu – Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist, mit einer abwehrenden Frage: Woher kennst du mich? Hört er in den Worten Jesu einen falschen Ton? („Hat der etwa gerade ´Hoho, ein Prachtbursche!´ zu mir gesagt“) Fühlt er sich gar herausgefordert über seine Ambitionen, veralbert über seinen Ehrgeiz? Fühlt er sich durchschaut als jemand, der gerne ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist, sein will – es gerne wäre – womöglich nicht ist – womöglich selbst die Sorge hat, keiner zu sein? Oder spürt er schon, dass da jemand mehr sieht als andere, so dass man auch in diesem mehr sehen kann, als zunächst angenommen.

Jesus findet in einem zweiten Anlauf das Schloss zu seinem Herzen, trifft das Kennwort, das Türen öffnet – ein bisschen so wie wir uns durch Kenntnis eines höchstpersönlichen Merkmals den Zugang zu unserem Account sichern – Geburtstag meines Großvaters, Geburtsname meiner Großmutter – und nennt den Ort, an dem Philippus ihm von Jesus erzählt hatte: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen. Und das gewinnt den Nathanael für Jesus: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!

Auch dieses Wort beendet noch nicht das Gespräch; das zu Erkennende scheint noch nicht erkannt zu sein – weder von Nathanael noch von den Lesern der Geschichte, also uns; es geht Jesus nicht darum durch ein bloßes Wunder der Hellseherei – das kann doch jeder, der sich einigermaßen gute Informationen verschafft – erkannt und verehrt zu werden: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das. Vielleicht war ihm dieses Bekenntnis des Nathanael noch zu formelhaft; wohl richtig, aber eben nur richtig gesagt – noch nicht richtig verinnerlicht, geglaubt, gelebt, gefühlt, mit allen Fasern seines Seins gespürt und erlebt: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!

Nicht das Christusbekenntnis des Nathanael sondern ein Offenbarungswort dieses Christus an ihn, an uns schließt unsere Szene ab und weist gleichzeitig über sie hinaus: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn. Die Berufung der Jünger – der Andreas, der Simon, der Philippus, der Nathanael und wie sie alle heißen – ist erst der Anfang einer wunderbaren Geschichte, die sich auf allererste Anfänge bezieht, auf Jakob und seinen Traum mit der Leiter und den Engeln zwischen Himmel und Erde, und diesen Traum weiterträumt auf ein letztes Ende hin, an dem Gott alles gut gemacht haben wird durch seinen Gottes- und Menschensohn, nicht nur in meinem Paradiesgärtlein, wo ich das jetzt schon ahnen kann, sondern überall und für alle Menschen. Größeres als das, gibt es nicht zu sehen.

Und wir dürfen davon erzählen, herausgelockt aus dem Schatten unseres Feigenbaumes, gesandt in die weite Welt.

4. Sonntag nach Trinitatis, 2. Juli 2023

Der Predigttext für den heutigen 4. Sonntag nach Trinitatis steht im 1. Brief des Petrus im 3. Kapitel:

Endlich aber seid allesamt gleichgesinnt, mitleidig, brüderlich, barmherzig, demütig. Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, dass ihr den Segen ererbt. Denn »wer das Leben lieben und gute Tage sehen will, der hüte seine Zunge, dass sie nichts Böses rede, und seine Lippen, dass sie nicht betrügen. Er wende sich ab vom Bösen und tue Gutes; er suche Frieden und jage ihm nach. Denn die Augen des Herrn sehen auf die Gerechten, und seine Ohren hören auf ihr Gebet; das Angesicht des Herrn aber steht wider die, die Böses tun«. Und wer ist’s, der euch schaden könnte, wenn ihr dem Guten nacheifert? Und wenn ihr auch leidet um der Gerechtigkeit willen, so seid ihr doch selig. Fürchtet euch nicht vor ihrem Drohen und erschreckt nicht; heiligt aber den Herrn Christus in euren Herzen. Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist, und das mit Sanftmut und Gottesfurcht, und habt ein gutes Gewissen, damit die, die euch verleumden, zuschanden werden, wenn sie euren guten Wandel in Christus schmähen. Denn es ist besser, wenn es Gottes Wille ist, dass ihr um guter Taten willen leidet als um böser Taten willen. Amen.

Das Leben lieben und gute Tage sehen, liebe Gemeinde.

Das Leben lieben und gute Tage sehen – was für ein sprechendes Wort, gerade für die Ferienzeit; um das Leben zu Lieben und gute Tage zu sehen, dafür machen wir Pause vom Alltag, schweifen in die Ferne, besuchen fremde Orte um uns selbst zu finden, wiederzufinden.

Das tut gut, diese Auszeit, dieser Abstand. Man kann sich das Leben kaum ohne vorstellen; auch wenn wir wissen, dass Urlaub und Ferien eher neuere Erfindungen sind. Was uns so selbstverständlich geworden ist, dass wir unseren Kalender danach – also nach den Schulferien – richten, sogar das kirchliche Leben, das wir doch auch lieben, und alles andere danach richten; das hat es bis vor wenigen Generationen gar nicht gegeben. Es gab den Sonntag, die Feiertage, Phasen größerer und geringerer Anstrengung; aber Auszeiten in diesem Umfang und für den größten Teil der Bevölkerung hat es vorher einfach nicht gegeben. Wenn das Leben süß war, dann war es Mühe und Arbeit.

Das hat sich zumindest für die Ferienwochen geändert – aber – und davon soll hier die Rede sein: auch die Ferienwochen setzten das Grundsätzliche, das Prinzipielle, die Fundamente unseres Zusammenlebens nicht außer Kraft. Wir können Erholung finden, für einen Moment Abstand von Mühe und Arbeit gewinnen; aber wir können nicht uns selbst entfliehen, nicht dem entfliehen, wie wir sind; und nicht dem entfliehen, wie wir sein sollen.

Die Grundsätze, die Prinzipien und Fundamente des Zusammenlebens; in unserem Rahmen also des christlichen Zusammenlebens bleiben in Kraft; und werden folgerichtig bei der Betrachtung, das Leben zu lieben und gute Tage zu sehen beleuchtet. Was sind unsere Grundsätze, was unsere Fundamente?

Diese Frage nach den Fundamenten ist ja durch die Fundamentalisten ein bisschen in Misskredit geraten, weil diese oft mit dem ihnen eigenen untrüglichen Blick für das Unwesentliche, nicht über Grundlagen des Glaubens reflektieren, sondern ihn – den Glauben – in einen großen Klotz – ein unbewegliches Fundament – einbetonieren wollen, damit er sich bloß nicht verändere, dass er nicht angreifbar werde, dass er geschützt wäre vor allen möglichen Angriffen. So als ob wir Menschen uns das Fundament unseres Glaubens erst schaffen müssten, anstatt dass wir uns auf unser von Gott gegebenes Fundament verlassen.

Uns soll es jedenfalls um die Grundlagen unseres Glaubens gehen, um die Fundamente unserer Glaubensgemeinschaft, die immer gelten und auch durch keine Ferienzeit außer Kraft gesetzt werden. Da lässt sich vermutlich schnell Verständigung erzielen, was dazu gehört:

Der Inhalt des Glaubensbekenntnisses, das zwar in historisch gebundener Form, aber doch immer noch gültig und relevant den christlichen Glauben auf den Punkt bringt.

Die Ethik der Zehn Gebote, die viel mehr sind als ein universelles moralisches Gesetz, sondern die umfassende, vielleicht auch unerreichbare, und dennoch immer noch normative Beschreibung eines gottgefälligen, gelingenden Lebens.

Das Vaterunser als Modell eines Gebets, eines Gesprächs mit Gott, der uns als Vater nahe kommt und als dessen Kinder wir ihm nahe kommen dürfen.

Die Grundsätze der Gerechtigkeit und der Wahrhaftigkeit, die beide den Realitätsbezug unseres Glaubens sicherstellen sollen und können. Es ist nicht egal, was ich tue und lasse; und es nicht egal, was ich sage oder verschweige; sondern unser Zeugnis soll wahr und unser Handeln gerecht sein. Eine bloße Binnenwahrheit für ein Häuflein Erleuchteter und eine bloße Binnengerechtigkeit für die, die dazugehören, toleriert unser Glaube nicht.

Das alles – Glaubensbekenntnis, 10 Gebote, Vaterunser, Gerechtigkeit und Wahrheit – das alles ist unserem Glauben grundsätzlich und fundamental, ohne das wäre unser Glauben nicht unser Glauben.

Vielleicht ist aber vorher und über allem noch etwas zu nennen; und zwar: Die christliche Nächstenliebe. Und ich meine, dass hier tatsächlich etwas benannt ist, das für viele noch unmittelbarer, noch eindeutiger das wesentlich Christliche benennt. Die christliche Nächstenliebe, also die selbstlose Hilfe für meinen Nächsten, der selbst Fremder – und im Grenzfall sogar Gegner und Feind – sein kann, der meiner Hilfe bedarf; gleichnishaft geworden im Barmherzigen Samariter. Was ist ein Christ? So einer wie der barmherzige Samariter, der einem Fremden hilft, dabei auf eigenen Vorteil nicht sieht und selbst Kosten nicht scheut; der Verzicht leistet, sich selbst zurücknimmt um des anderen willen, der etwas, das ich habe, mehr braucht als ich; der nicht sich selbst in den Mittelpunkt stellt sondern den anderen.

Manche Vertreter der Soziobiologie halten diese – durch Jesus geforderte und bei Christen immer noch verbreitete Form – des Altruismus für den entscheidenden Fortschritt der Evolution, der nur Menschen eignet; wichtiger und entscheidender als Intelligenz und aufrechter Gang. Danach würde das uns zu Menschen machen, was uns über uns selbst hinaus sehen lässt, die Anliegen und Interessen der anderen zum Maßstab, zur Maxime meines Handelns werden lässt. Ob das zutreffende Annahmen über den Menschen sind, vermag ich nicht zu beurteilen; zutreffende Zusammenfassungen des christlichen Kerns sind sie allemal. Christ ist der, der sich selbst zurücknehmen kann, der Interessen von anderen wahrnehmen kann, der auf sein Recht zugunsten anderer verzichten kann, der dabei sogar seinen Feinden gerecht zu werden versucht. Nicht der Ellenbogen sondern die offene Hand ist das Zeichen der Christen.

Ich meine, dass auch unser heutiger Predigttext diese urchristliche Botschaft verkündet. Mitleidig, brüderlich, barmherzig, demütig sollen wir sein. Gewalt nicht erwidernd, sondern unterbrechend; segnend auch die, die uns übel wollen, weil der Segen letztlich nicht aus uns sondern von Gott kommt; besser um der Gerechtigkeit willen leiden, als selbst ungerecht werden; menschenfreundlich sein, und darin Zeugnis ablegend für den menschenfreundlichen Gott; wissend, dass es besser ist, um guter Taten willen zu leiden als um böser Taten willen – denn, wie Petrus den Gedanken unserem Predigttext fortsetzt: „Denn auch Christus hat einmal für die Sünden gelitten, der gerechte für die Ungerechten, damit er euch zu Gott führte.“

So verantworten wir die uns von Gott anvertraute Gerechtigkeit und seine Wahrheit vor den Menschen und vor uns. Dabei mag uns Nächstenliebe, Selbstzurücknahme, Rechtsverzicht als christliche Tugend einleuchten, aber ob sie auch für die Praxis taugt? Wie ist das, wenn wir uns auf etwas gefreut haben und wir müssen darauf verzichten, weil uns die Nächstenliebe in die Pflicht nimmt? Was bleibt von unserer geöffneten Hand, wenn wir gerade mal wieder den Ellbogen der anderen gespürt haben? Wo bleibe ich, wenn ich mich zurücknehme, sonst aber niemand? Warum soll ich eigentlich auf mein gutes Recht verzichten, nur weil es einem, der bedürftig ist, helfen könnte?

Denn: Recht ist Recht. Von Rechtsverzicht steht in den Gesetzbüchern nichts. Wenn ich Vorfahrt habe, brause ich los, komme wer da wolle. Wenn ich an der Supermarktkasse dran bin, mähe ich schon mal eine etwas langsamere Großmutter nieder – nicht mehr ganz so forsch wie früher, bin ja selber Großvater! Wenn ich Recht habe, möchte ich’s auch bekommen. Sollen die anderen helfen. Wenn sich jeder selbst hilft, ist allen geholfen. Liebe Schwestern und Brüdern, das ist der Teufel, der uns das einflüstert; na gut; den gibt es vielleicht nicht, aber dafür kann er noch ziemlich laut und hässlich flüstern.

Dagegen hilft es sich immer wieder die andere, die christliche Botschaft zu sagen und sich sagen zu lassen. Auch die Adressaten des Petrusbriefes werden das alles gewusst haben, was ihnen da geschrieben wird, so wie wir das wissen, was Nächstenliebe ist und was sie uns abverlangt; aber wir wie sie müssen daran erinnert werden, es gesagt bekommen immer wieder; das Grundsätzliche, das Fundamentale stets und von neuem gesagt bekommen: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; und das ist richtig und gut so, auch wenn es dir niemand dankt. Selbst wenn es dich in Schwierigkeiten bringt, lasse davon nicht ab.

Unsere Versuche der Nächstenliebe werden die Welt nicht verändern: Erfolg ist ausdrücklich kein Maßstab der Nächstenliebe; aber sie wird uns verändern – hin zu einem Leben, dass Gott gefällt – uns doch auch; damit wir das Leben lieben und gute Tage sehen. Auch das wäre ein Erfolg. Amen.